Der Leichensee und andere Geister-Geschichten by Jodocus Temme

Der Leichensee und andere Geister-Geschichten by Jodocus Temme

Autor:Jodocus Temme [Temme, Jodocus]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9788026867760
Herausgeber: e-artnow
veröffentlicht: 2016-09-15T22:00:00+00:00


Der Proceß Leuthold.

Inhaltsverzeichnis

Im Canton Zürich lebte noch vor wenigen Monaten der reichste Fabrikenbesitzer der Schweiz; er gehörte zu den reichsten des Continents. Seine Spinnereien verbreiteten sich durch einen großen Theil des Schweizerlandes. Sie sind vor einigen Tagen unter seine Erben vertheilt, und man las da von 150,000 und noch mehr Spindeln.

Sein Vermögen wurde schon bei seinen Lebzeiten zu ungeheuren Summen angegeben. Anderswo hört man im Munde des Volkes von einem sehr reichen Manne oft sagen: » Er ist so reich, daß er selbst sein Vermögen nicht zählen kann.« In der Schweiz können sie zählen, und der Oberst Kunz, so war der Name des Krösus, gab selbst zum Zwecke der Versteuerung – in der Schweiz schätzt man für die Versteuerung sich selbst ab – sein Vermögen zu sechs Millionen Franken an. Nach seinem Tode stellte es sich zu siebenundzwanzig Millionen heraus. Seine Erben haben, nebenbei bemerkt, den – Rechnungsfehler dadurch wieder gut gemacht, daß sie dem Lande zu wohlhätigen Stiftungen 750,000 Franken schenkten.

Der Oberst Kunz war unverheirathet, auch nie verheirathet gewesen. Er lebte sparsam, vielleicht mehr als sparsam, und man erzählt von ihm, daß er einen Fabrikinspector entließ, weil er den Mann im Weinhause hatte einen Schoppen Wein für 36 Centimes trinken sehen, während er selbst seinen Schoppen nur für 30 Centimes trank; Leute, die so verschwendeten, könne er nicht gebrauchen. Gegen seine fast zahllosen Fabrikarbeiter soll er mitunter hart gewesen sein. Doch werden ihm auch manche Züge von Wohlthätigkeit gegen die Armen nacherzählt.

Er hatte als armer Fabrikarbeiter zu arbeiten und zu wirken begonnen und sein kolossales Vermögen durch Fleiß, durch Sparsamkeit, durch Klugheit und durch Glück erworben. Nie hat man eine Unredlichkeit von ihm behauptet. Daß ein solcher Mann schon bei seinen Lebzeiten der Gegenstand der Neugierde, der Bewunderung, des Geheimnisses, des Aberglaubens im Volke wurde, ist begreiflich.

Er hieß fast allgemein nur der Spinnerkönig, und man erzählte die wunderbarsten Geschichten von ihm. Nach seinem Tode vermehrten sich diese. Er hatte kein Testament hinterlassen, und entferntere Verwandte – ich glaube, vier Neffen – waren seine gesetzlichen Erben. Allerlei Gerüchte wollten diesen lange Zeit die Erbschaft streitig machen. Bald sollte doch noch ein Testament da sein; bald eine plötzlich aufgetauchte Frau; bald gar ein in geheimer, aber rechtmäßiger Ehe geborener Sohn. Wahr war aber nichts davon.

Begreiflich ist auch, daß der Spinnerkönig, gleichfalls schon bei seinen Lebzeiten, zu mancher Speculation dienen mußte. Nicht gegen ihn selbst; – ich glaube, kein Mensch kann sich rühmen, den Oberst Kunz überlistet zu haben – aber Schwindler beschwindelten Andere unter Mißbrauch seines Namens. Einen interessanten Beleg dazu liefert der Proceß Leuthold, der im Januar dieses Jahres (1860) vor den Geschworenen in Zürich verhandelt wurde. Ich erzähle ihn hier. Ich erzähle ihn in seiner Entwickelung vor den Geschworenen, denn er ist reich an dramatischen, psychologischen und juristischen Momenten. Er ist zugleich ein Bild von dem in mancher Beziehung eigenthümlichen Züricher Schwurgerichtsverfahren.

Im Anfang August 1859 war der Oberst Kunz gestorben. Erst mehrere Monate später verbreitete sich das Gerücht, daß sein Name bei seinem Leben und nach seinem Tode von einem verschmitzten Weibe in fast unglaublicher Weise zu einem großartigen Betruge mißbraucht sei.



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